Der Pygmalion-Mythos aufregend neu erzählt
Ein Gefängnis hoch oben auf einer Klippe. Darin eine Frau, die Tag und Nacht von Ärzten und Schwestern überwacht wird. Ein Mann, der sie immer wieder besucht. Wenn er kommt, erstarrt sie zu Stein – und wird unter seinen Händen wieder lebendig. In dieser Erzählung führt Madeline Miller den berühmten Mythos von Pygmalion fort: Der Bildhauer erschafft eine Statue, die so makellos ist, dass er sich in sie verliebt: Galatea. Die Göttin Venus erhört seine Gebete und erweckt Galatea zum Leben. Sie gebiert eine Tochter und ist zunächst glücklich in der Ehe mit Pygmalion – doch als sie beginnt, ihren eigenen Willen zu haben, und die Kontrollversuche und Eifersucht ihres Gatten nicht mehr ertragen kann, ereilt sie ein grausames Schicksal. Galatea will Freiheit. Sie schmiedet einen Plan. Und kalt und hart wie Stein setzt sie ihn um.
Was ich zu sagen habe…
Als großer Fan von Retellings habe ich natürlich von Madeline Miller gehört. Zudem wurde mir die Autorin von mehreren anderen Blogger*innen und auch privaten Freund*innen ans Herz gelegt. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis ich mich einem Werk der Schriftstellerin widme. Umso gelegener kam mir diese Novelle auf Netgalley, die keine hundert Seiten umspannt. Sie gliedert sich in vier Teile: ein Vorwort der Autorin, ihre Geschichte, ihrer Quelle von Ovid in deutscher Übersetzung und einem interpretierenden Nachwort. Dadurch erhalten wir eine Handlung mehr oder minder viermal erläutert, was… viel ist. Zugegebenermaßen hätte eine Kürzung des ersten und letzten Teils die Veröffentlichung nur noch mehr ihres Umfangs beraubt. Nichtsdestotrotz erschien mir vieles im Nachwort Wiederholung zu sein, wenn auch einige gute Zusätze darin zu lesen waren.
Und er schickte mich ins Bett, und danach bewunderte er im Licht der Fackeln die Spuren auf meinem Körper; die Rötung an meinem Hals, die violetten Striemen auf meiner Brust und auf den Armen, dort, wo er sie umklammert hatte. Er rieb daran, als wären es Flecken, keine Blutergüsse. „Die Farbe ist perfekt“, staunte er. „Sieh her.“ Und er hielt mit den Spiegel hin, damit ich es sehen konnte. „Du gibst eine ganz vorzügliche Leinwand ab, meine Liebe.“
Ovids Metamorphosen habe ich bereits in der Schule gelesen und behandelt. Die Misogynie darin war mir bereits damals bewusst. Madeline Miller bringt sie in ihrem Vorwort, aber auch in der Neuerzählung nachvollziehbar und doch auf verschiedene Weisen zum Ausdruck. Um genau zu sein handelt es sich bei Millers Galatea um keine Wiedererzählung, kein Retelling per se, sondern um eine interpretierende Fortsetzung. Wir lernen unsere Protagonistin erst lange nach den Geschehnissen der ursprünglichen Handlung kennen. Und wir dürfen dennoch wahrnehmen, wie sie in all dieser Zeit und jetzt noch immer leidet.
Diese Geschichte erinnerte mich stark an die von mir geliebte Kurygeschichte The Yellow Wallpaper von Charlotte Perkins Gilman und hat ähnlich eindrückliche Momente.
Galateas Schicksal ist erniedrigend, doch sie trägt es mit Fassung und wehrt sich mit bewegendem Mut. In Detailreiche und durch winzige Momente und Dialoge, Erinnerungen und Gedankenstränge verbildlicht uns die Autorin eine lange Zeit der Qual, die unsere Protagonistin nicht mehr ertragen will, noch wird. Ihre äußere, verschriene Schönheit ergänzt nur ihre innere Stärke. Madeline Miller verleiht einer namenlosen und stimmlosen Figur der Antike eine berührende und inspirierende (Hintergrund-) Geschichte und eine unüberhörbare, inspirierende Stimme. Thomke Meyer schenkt uns zudem fabelhafte Illustrationen, die auf die antike Herkunft der Erzählung anspielen, aber auch die beeindruckende Unzähmbarkeit unserer Protagonistin einfängt.
Fazit
Auf nicht einmal einhundert Seiten füllt Madeline Miller eine antike, stimm- und namenlose Figur mit einer unerschütterlichen und bewegenden Stärke. Sie uns Andreas Knabl rollen Ovids Pygmalion-Erzählung aus heutiger Sicht auf und Thomke Meyer verleiht der neuen Auslegung dieser mit traumhaft schönen Illustrationen noch mehr Farbe.
Die Autorin:
Madeline Miller is the author of The Song of Achilles, which won the Orange Prize for Fiction 2012, was shortlisted for the Stonewall Writer of the Year 2012, was an instant New York Times bestseller, and was translated into twenty-five languages. Madeline holds an MA in Classics from Brown University, and she taught Latin, Greek and Shakespeare to high school students for over a decade. She has also studied at the University of Chicago’s Committee on Social Thought, and at Yale School of Drama, where she focused on the adaptation of classical texts to modern forms. Her essays have appeared in publications including the Guardian, Wall Street Journal, Lapham’s Quarterly and NPR.org. She lives outside Philadelphia. Q