Wie Frauen Geschichte schrieben – und Männer dafür den Ruhm bekamen
Muse, Sekretärin, Ehefrau – es gibt viele Bezeichnungen für Frauen, deren Einfluss aus der Geschichte radiert wurde. Für deren Leistungen Männer die Auszeichnungen und den Beifall bekamen: Wissenschaftlerinnen, deren Errungenschaften, im Gegensatz zu denen ihrer männlichen Kollegen, nicht anerkannt wurden. Autorinnen, die sich hinter männlichen Pseudonymen versteckten. Oder Künstlerinnen, die im Schatten ihrer Ehemänner in Vergessenheit geraten sind. Lebendig und unterhaltsam erzählt die Historikerin Leonie Schöler ihre Geschichten, sie zeigt, wer die Frauen sind, die unsere Gesellschaft bis heute wirklich vorangebracht haben. Und sie verdeutlicht, wie wichtig die Diskussion um Teilhabe und Sichtbarkeit ist. Dabei wird klar: Hinter jedem erfolgreichen Mann steht ein System, das ihn bestärkt; vor allen anderen steht ein System, das sie aufhält.
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Buchmesse-Fund
Dieses Buch ist mir bis zum Messedonnerstag vollkommen entgangen. Dann hat mich Leonie Schöler in ihrer von Hugendubel veranstalteten Lesung jedoch für ihre Non-Fiktion geistert. Sie sprach nur von wenigen Fällen beklauter Frauen und las nur aus einem einzigen Kapitel, doch das Konzept des Buches stand fest: Es soll den Frauen Sichtbarkeit schenken, die im Laufe der letzten 200 Jahre in den Geschichtsbüchern praktisch ausradiert wurden. Ein weiteres Detail teilen diese Frauen: Sie haben etwas zu tun vermocht, womit Männer im Anschluss bekannt wurden.
Die zahlreichen Fälle, die Schöler bespricht, überzeugen nicht nur in ihrer Anzahl (nur ein Bruchteil derer, von denen sie hätte erzählen können), sondern auch durch ihre Bekanntheit. Zumindest mit der jener Männer, die durch die nun diskutierten und vorgestellten Frauen heute einen Namen haben. Ich war schockiert, erstaunt, aber schlussendlich auch ungemein bestärkt in meinem Frau-Sein. Wenn du denkst, das hat noch nie eine Frau gemacht, dann kannst du dir sicher sein, dass das nicht wahr ist. Und dass du es genauso kannst.
Benannt wurde der Matilda-Effekt nach der US-amerikanischen Frauenrechtlerin Matilda Joselyn Gage, die Ende des 19. Jahrhunderts feststellte: Je mehr eine Frau arbeitet, desto mehr profitieren die Männer in ihrer Umgebung davon und desto weniger Anerkennung wird ihr selbst zuteil. – Seite 60
Einfach zu folgen trotz verschiedenster Kontexte und Bereiche
Leonie Schöler vermag es, ihre Leser*innen von der ersten Seite an abzuholen. Sie beginnt mit altvertrauten Geschichten über Sammler und Jäger, bzw. Sammlerinnen und Jäger. Von da an baut sie ihre informative und faszinierende Argumentation auf. In sechs größeren Kapiteln stellt sie uns dann nicht nur bedeutende Frauen vor, sondern bettet diese auch gekonnt und verständlich in ihre sozialen und historischen Kontexte ein. Bereits in der Einleitung kommuniziert sie, dass sie sich auf die letzten 200 Jahre fokussieren wird. So beginnen ihre ersten Fälle mit der Französischen Revolution und den Frauen, die nach Versailles marschierten, und enden mit den diskriminierenden KIs unserer heutigen Zeit. Sie entführt uns geschickt in andere Jahrhunderte, indem sie uns mit den damaligen Umständen vertraut macht. Schörle findet immer einen Ansatzpunkt, der uns allen bekannt ist–mögen es Persönlichkeiten wie Albert Einstein oder Picasso oder auch Ereignisse wie Weltkriege oder Revolutionen sein. Sie lädt uns mit dem ein, was uns bereits vertraut ist, und lässt uns dann tiefer in die wirklichen Geschehnisse und verborgenen Geschichten eintauchen. Besonders gelungen ist es ihr zumeist, die größeren Kapitel wirklich rund zu machen und die Geschichten darinnen zu verknüpfen.
Alle kennen Albert Einstein, aber wer ist eigentlich Mileva Marić?
Eine der Missverhältnisse, die mich besonders fasziniert haben, ist das zwischen Mileva Marić und Albert Einstein. Mit zahlreichen Referenzen (40 Seiten Anmerkungen und 30 Seiten Literatur- und Quellenverzeichnis) unterlegt Leonie Schöler diese und auch alle anderen Berichte. Zudem erzählt sie auf einfühlsame, aber trotz allem zügige Art. Wir können uns annähernd vorstellen, was zum Beispiel Mileva Marić durchgemacht hat, jedoch tauchen wir nicht vollends in ihr Leben ein. Stattdessen blicke wir aus heutiger Sicht auf die Entwicklungen, die dank ihr stattgefunden haben und uns heute indirekt beeinflussen. Auch fragen wir uns, wie die Welt heute aussehen würde, hätte man (Mann) ihr und den anderen Frauen einen Namen für sich selbst zugestanden. Das ist nicht nur der Fall in den Wissenschaften, sondern auch im Militär, in der Kunst, in der Politik, in der Bildung. Leonie Schöler hat zahlreiche bewegende und ausdrucksstarke Beispiele gewählt und diese verständlich und nachhallend aufbereitet.
Fazit
Von bekannten Ereignissen und Persönlichkeiten ausgehend führt uns Leonie Schöler durch die letzten 200 Jahre. Dabei stellt sie uns faszinierende Frauen und ihre schockierenden Geschichten vor. Mit zahlreichen Referenzen und ihrem einladenden Schreibstil findet die Autorin die perfekte Balance zwischen Argumentation und Unterhaltung, sodass das Lesen und Lernen zum Vergnügen wird.
Die Autorin:
Leonie Schöler, geboren 1993, ist Historikerin, Journalistin und Moderatorin. Auf ihren beliebten TikTok- und Instagram-Kanälen (@heeyleonie) vermittelt sie spannendes Geschichtswissen und klärt ihre über 230.000 Follower*innen regelmäßig über die Vergangenheit und aktuelle politische Geschehnisse auf. Als Redakteurin und Filmemacherin mit Fokus auf Webvideos liefen ihre Recherchen bei diversen funk-Produktionen, unter anderem »Jäger und Sammler«, das »Y-Kollektiv« und »Auf Klo«. Im Sommer 2021 erschien ihre Dokumentation über das System Tönnies für ZDFinfo, im Januar 2022 ihre achtteilige Webvideoreihe zur Wannsee-Konferenz für das ZDF. Zudem moderierte Schöler ab November 2022 in ihrer Rolle als Historikerin das ZDFinfo-Format »Heureka« auf YouTube. Leonie Schöler lebt in Berlin. »Beklaute Frauen« ist ihr erstes Sachbuch. Q